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Rückschau auf Montagnola




Randgedanken zum Hermann-Hesse-

Kolloquium in Montagnola

Mai 2022


















Ein-Blick von außen Stellen wir uns einmal vor, im Tessiner Dörfchen Montagnola fände eine Tagung statt zur

Ausleuchtung von Leben und Werk des hier in seinen letzten Lebensjahrzehnten sesshaft gewesenen Großschriftstellers Hermann Hesse. Nehmen wir einmal an, ich habe die viel-stündige Jagd auf Autobahnen wohlbehalten hinter mich gebracht und mich auf einem beinah leeren Campingplatz behaglich eingerichtet, ein dichtes Bambusgehölz im Rücken. Zunächst aber gehen wir einmal davon aus, der letzte Tag läge bereits hinter mir und ich konzentrierte mich nun endlich auf die Frage, was in meinem Innersten mich eigentlich hierhergetrieben hat an diesen fernen Ort, zum ersten Mal und so allein, wie ich unterwegs bin. Es ist noch Mai, aber das Tessin schwitzt bereits wie im Juli in der flirrenden Luft. Ich habe meinen ganzen Teil der angebotenen Vor-träge bereits am ersten Tag inhaliert. Da die Referate des zweiten Tages weitgehend auf Italienisch gehalten werden, wäre ich als vermutlich einziger Vertreter Ostdeutschlands sprachunkundig und auf viel Papier mit Kurzzusammen-fassungen angewiesen. Ungeachtet der Hitze und steiler Straßen habe ich daher diesen Tag genutzt, um Blicke auf Dinge zu werfen, die wohl schon zu Hesses Lebenszeit ähnlich in der Sonne lagen. Da sind noch ein paar enge Gassen der zur Gemeinde Collina d´Oro gehörenden Dörfchen. Zypressensäulen und Pinien, deren Format Rom und Capri alle Ehre machen würden, beschatten steile Anwesen mit üppigen Sträuchern; die Luft ist so süß, als habe man sie mit Parfümen besprüht. Hoch oben und abseits der Hauptstraßen vergesse ich allmählich die sich um den Luganer See von Ampel zu Ampel kämpfende, von modernen Rittern auf Chromgeschirren flink eskortierte Blechlawine. Wieder einmal – wie schon an anderen Orten – fällt mir ein, dass sich unter meiner Hesse-Literatur ein bei ähnlicher Gelegenheit in seinem Geburtsort Calw gekaufter Führer entlang der Hesse-Routen befindet und dass ich ihn zu Hause im Regal stehenlassen habe – wie immer! Und wieder einmal gebe ich mir die Antwort: Ok., es ist gut so. Auf die Idee, nun darum mit meinem Handy vor der Nase herum-zulaufen, käme ich allerdings kaum: „Im Übrigen… der unscharfe Rand rund um das Display ist das Leben!“ las ich neulich in irgendeiner Stadt auf eine Schaufensterscheibe gepinselt – es wäre wohl auch schon vor mehr als hundert Jahren auf den Baedecker anwendbar gewesen. An einer Stelle mit Ausblick, die mir bekannt vorkommt, halte ich kurz an, zerreibe ein abgepflücktes Feigenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger, um den aromatischen Duft des Südens einzusaugen. Genau hier muss ein bekanntes Foto Hesses entstanden sein, was ihn in beinah schwarzem Silhouettenprofil vor Berg und Tal zeigt, in Zwielicht Richtung Dorf hinunterblickend. Ich mag dieses Bild. Es kam mir immer vor, als habe er hier oben eine letzte Tagesstunde noch einmal für den Genuss der Stille nutzen wollen. Hatte er vielleicht ebenso gerade den Duft eines zerriebenen Feigenblatts in der Nase, damals, vor acht, neun Jahrzehnten? Aber was ist aus dem Bildhintergrund geworden? Nein, keine Sorge: Ich will nichts beklagen. Zwar gerät mir hangabwärts kaum Bemerkenswerteres in den Blick als die langweiligen, heckenumzäunten, von Treppen und Mäuerchen umsäumten Claims, deren glückliche Besitzer allen überschüssigen Beton talwärts gerollt zu haben scheinen. Dort unten im Tonlosen liegt er nun, ausgewalzt zu einer Autobahn, statt Palmen starren überall Kräne in den Himmel und an den engen Seeufern wachsen und gedeihen vielstöckige Gebäude, als gäbe es nicht diese Julitrockenheit im Mai. Und wenn ich aus meiner Höhenetage hinüberschaue zum gegenüberliegenden Bergstock San Salvatore, so ist auch dort genau ablesbar, bis in welche Höhen sich die Gier nach Teilhabe an den Schönheiten dieses überaus begünstigten Landstrichs bereits gefressen hat. Gier? Ist das nicht eine ungerechtfertigte Wertung und ich hätte besser Bedürfnis sagen sollen? Nun, vielleicht ist beides richtig: Eine skrupellose und eine liebende Variante der Umsetzung von Wünschen, die wir alle haben. Und wenn ich den Hintergrund des Hesse-Profilfotos richtig in Erinnerung habe, so war der Berg gegenüber auch damals längst keine unberührt-romantische Wildnis mehr. Nein, auch für ihn änderte sich in der Zeit seiner fünfundachtzig Lebensjahre viel, ungeheuer viel sogar und er wusste genau, dass sich nichts festhalten ließ und nichts blieb, wie es war. Als ich noch nichts von Hermann Hesse wusste, seinen Namen noch nicht kannte, hatte ich noch eine Urgroßmutter; sie wurde über hundert Jahre alt. Heute weiß ich, dass sie und Hesse altersmäßig nur wenige Monate trennten. Wenn sie aus ihrer Ecke heraus still auf den flimmernden Fernseher blickte, fragte ich mich nicht nur einmal, wie sie wohl den Sprung aus einer Jugend verarbeitet hatte, in der es weder Auto noch Flugzeug gab und als man im Winter noch früh schlafen ging, um Kerzen oder Lampenöl zu sparen. Gleichaltrig mit Hesse - das hieß somit, dass er genau wie sie denselben Epochenwandel mit vollzogen hatte, mit vollziehen musste. Wenn er heute hier und da als „letzter Romantiker“ bezeichnet wird, so ist es aus diesem Gesichtspunkt heraus sein gutes Recht, es zumindest bis zum Einbruch gewisser unvorstellbar gewalttätiger Umstände tatsächlich gewesen zu sein. Dass er selbst das Bahnfahren noch als eine Art Meditation auf Rädern begreifen konnte, ist wohl ebenso dieser Seite zuzurechnen wie seine frühe Faszination für das Fliegen: Nicht der technischen Möglichkeiten, sondern einzig der Kontemplation halber schien es erstrebenswert, nun endlich auch „über den Wolken“ schweben zu können. Aber aus den Lebenszeugnissen geht auch hervor, dass er sich in seinen letzten Jahrzehnten durchaus gern von seiner Frau im Auto hinabkutschieren ließ ins wogende Tal, was kaum auf Anlässe für Meditationen, dafür aber umso mehr auf die praktische Nutzung der modernen Möglichkeiten schließen lässt. Und wenn ich das schwarzweiße Profilfoto richtig in Erinnerung habe und die gegenüberliegenden


Berghänge auch damals längst nicht mehr frei von um sich greifender Bebauung waren, so belegt dies nur einmal mehr, dass Hesse niemals ein weltferner, rückwärtsgewandter Schwärmer und Ignorant war, sondern bei aller Gefühlstiefe immer Realist auf Höhe der Zeit: Es schloss sich nicht aus. Während die heutigen Teilnehmer des Kolloquiums im ersten Stock des neben dem Hesse-Museum gelegenen Literatur-Cafe´s „Boccadoro“ bei offenen Fenstern ihren italienischen Vorträgen lauschen, durchquere ich den Hof diesmal nur auf Suche nach der „Casa Rossa“, dem Wohndomizil des Dichters in den letzten Lebensjahrzehnten. Ja, ich weiß, dass er sich das Haus von seinen reichen Gönnern zwar gern bauen ließ an diesem durch seine einsame Lage zusätzlich begünstigten Flecken am oberen Ortsende. Aber ich weiß auch, dass er es sich nicht schenken lassen wollte und so ging es nach seinem Tod an die Besitzer zurück und es bewahrheitete sich, worauf er am Ende stolz war: Sein einziger Grundbesitz würde die Grabstelle bleiben, die er in den fünfziger Jahren für sich und seine Frau kaufte. Ich habe dieses Haus schon auf vielen Fotos gesehen, in Briefen, Schriften, Biografien über seine Entstehung gelesen, warum es von vornherein als Doppelhaus geplant war und wie es innen aussah. Daher war ich mir sicher, dass ich es an seiner Hangterrasse sofort erkennen müsste. Aber ich staunte: Den verbreiterten und teils asphaltierten Weg, der immerhin Hesses Namen trägt, begleitet eine massive Steinmauer, gekrönt von meterhohen Hecken, die den geringsten Einblick verwehren: Sollte das die niedrige Hecke sein, die Hesse einmal selbst pflanzte, um damit vielleicht irgendwann der ungebetenen Besucher entledigt zu sein, die auch das berühmte Schild „Bitte keine Besuche!“ kaum abhielt, durch seinen Garten zu trampeln? Das heutige Schild am Zugang lautet „Privatsitz. Betreten verboten!“ und angesichts des hinter dem schweren Eisentor in die Tiefe eines paradiesischen Besitzes – nein, „Sitzes!“ – führenden Fahrwegs käme kein hemdsärmeliger Hesse-Verehrer mehr auf die Idee, ungebeten hier einzudringen. Ich wünschte, das von seinem Malerfreund Gunter Böhmer angefertigte Schild hinge noch da – ich würde es nicht weniger unbedingt respektieren als den Hinweis auf den „Privatsitz“! Erst wo der Weg zu einem Waldweg wird, ist ein Blick zu erhaschen auf das Haus am Hang. Ja, es ist noch da, aber es ist nicht mehr dasselbe und auch längst nicht mehr rot, sondern weiß. Ohne den Bezug zu Hesse ist es ein luxuriöses Anwesen wie so viele im Tessin und mir im Grunde ähnlich gleichgültig wie das Haus meiner Groß- und Urgroßeltern,

nachdem sie alle gestorben waren. Also wandere ich noch ein Stück durch den dahinter beginnenden Laubwald und während ich Rast auf einem Baumstumpf mache, ist mir plötzlich, als würde mir der Alte von Montagnola begegnen: Mit trockenen Ästen im Arm, wie er sie gern sammelte. Ja, ich weiß, auch das ist eine Wahrnehmung, die von Fotos stammt und wenn ich noch ein klein wenig weitergehe, fällt mir auch noch die Ge-schichte vom „Knarren eines geknickten Astes“ ein, an den er im Vorüberkommen gerne prüfend schlug, um ihn an einem Augustabend 1962 mitzunehmen in eins seiner berühmtesten Gedichte und in die Nacht, aus der er nicht mehr erwachte… Die italienischkundigen Kolloquiums-Teilnehmer beginnen im Hof plaudernd ihre Mittagspause, als ich wieder am Literaturcafe´ anlange. Es ist nicht meine erste Teilnahme an einer solchen Veranstaltung; seit Jahren Mitglied der Internationalen Hesse-Gesellschaft, habe ich sie schon an anderen mit dem Dichter verbundenen Orten erlebt. Einige Gesichter unter

den vielleicht sechzig Anwesenden sind mir von daher durchaus vertraut; am Vortag haben sich hier und da auch kurze Gespräche ergeben, soweit sie in Deutsch geführt werden

konnten. Aber es ist seltsam: Während ich gleich beim ersten Aufeinandertreffen Zeuge vielerlei überschwänglicher Wiedersehensbekundungen werde, will sich bei mir Derartiges auch nicht ansatz-weise einstellen und es liegt nicht an der sprachlichen Verständigung. Aber woran dann? Ohne lange suchen zu müssen, hatte ich gleich am ersten Tag den für mich idealen Parkplatz gefunden, den ich nun täglich nutze. Er liegt weit unten am Ortseingang hinter dem Friedhof San´t Abbondio, nur durch die hohe Friedhofsmauer getrennt von Hesses Grab. Nun, nach der Rückkehr von der „Casa Rossa“ besuche ich es bereits zum vierten Mal. Nachdem ich am Morgen des vorhergehenden Tages den Friedhof zum ersten Mal betreten und die Wirkung der italisch-pomphaften Grabstätten ringsum abgeschüttelt hatte, stand ich treppab nach knirschenden Kieswegen erstmals davor und es kam mir in seiner naturbelassenen Schlichtheit beinahe vor wie einem japanischen Klostergarten entnommen. Der rechts vom Grabstein hingebreitete Monolith mit seinen sanft behauenen Rundungen und einem durch-gehenden Sprung lud so selbstverständlich zum Niederlassen ein wie eine Handgeste: Ein Ruheplatz, von dem der Blick ungehindert zwischen Hesses Namen und einer massiven Steinschale hin und her wandern kann. Während in den Lavendelbüschen hausende Eidechsen zwischen schwimmenden Blütenblättern aus einem Wasserrest ihren Durst stillten, stellte sich das Gefühl ein, dass ich ihm hier physisch am nächsten war. Hier war er zuletzt eingesenkt worden in den Boden, hier lag das Wenige, was letztlich übrigbleibt. Es war die leibhaftige Stelle des Übergangs, der letzten Wandlung, der körperlichen, die unvermeidlich den vielen Wandlungen folgt, wie er sie in seinem Märchen von Piktor und eigentlich immer wieder beschrieben hat. Plötzlich spürte ich ganz intensiv, dass dieser winzige Flecken einer der wichtigsten Orte war, die ich hatte in meinem ebenfalls schon vorgerückten Alter noch aufsuchen wollen, ungleich wichtiger als das Tadsch Mahal, die Pyramiden oder Neuschwanstein gar. Viel Zeit blieb mir nicht an diesem ersten Morgen, da ich noch den Weg zum Tagungsort suchen musste. Aber ich war beobachtet worden und als ich mich zum Gehen anschickte, sprach mich die alte Dame an, die bis dahin mit dem Gießen anderer in der Sonne liegender Gräber beschäftigt gewesen war und sie tat es zu meiner Verwunderung in fehlerlosem


Deutsch mit leichtem Berliner Akzent! Es sei schön, dass ich mich hier niedergelassen habe, es komme eher selten vor - ob ich Deutscher oder Schweizer sei? Sie habe als Berlinerin 35 Jahre im Dorf Montagnola gelebt, sei so etwas wie der gute Geist dieses Friedhofs geworden, aber lebe jetzt aus Alters-gründen weiter unten im Bequemeren, Städtischen… Ausgerechnet Hesses Grab habe eine Zeitlang sogar etwas verwahrlost gewirkt, zumindest im Vergleich mit dem daneben befindlichen einer bekannten Schweizer Industriellenfamilie, erzählt sie mir, bevor ich mich verabschiede. Wie das? Ich war sicher, dass sich das nun, nach Beginn des Kolloquiums unbedingt ändern würde. Aber als ich am Abend vor der Rückfahrt noch einmal zurückkehrte, gab es keine alte Frau mehr auf dem Friedhof, die Eidechsen leckten noch immer am Wasser und ich hatte dummerweise am Morgen die Sammlung von Kieseln auf Hesses Grabstein nicht durchgezählt, um jetzt feststellen zu können, ob im Laufe des Tages ein oder zwei weitere hinzugekommen waren… Thema der diesjährigen Tagung ist die Beziehung Hermann Hesses zu dem wenige Jahre

jüngeren Schriftstellerkollegen Stefan Zweig, der bereits in sehr jungen Jahren brieflich die Hand nach dem am Rand des Erfolges stehenden Älteren ausstreckte. Der Kontakt wurde über Jahrzehnte aufrechterhalten, war aber wie zu erwarten Wandlungen in Intensität wie Inhalt unterworfen. Der Vergleich der beiden ungleichen Kollegen erhellt interessante wie amüsante Momente, da sie aus verschiedenen Welten kamen und durchaus auch von unter-schiedlichem Temperament waren. Dafür mag der Türbalken stehen, an den sich Zweig bei seinem ersten Eintritt in Hesses Gaienhofener Bauernhaus die Stirn derart stieß, dass er vor dem ersten Austausch eine Viertelstunde liegen musste – eine lebendige Episode im Einführungsvortrag, die durchaus an das Zusammentreffen van Goghs mit Gauguin denken lässt. Hesse, Zweig und ihr Verhältnis zur Schule im Vergleich, Hesse, Zweig und ihr Weg Richtung Alter und Tod, Hesse - Zweig, Zweig – Hesse, – ja doch, es gibt durchaus neue Aspekte und erhellende Momente, auch für denjenigen, der zumindest über einen der beiden schon einiges gehört und noch mehr gelesen hat: Das sind hier alle und wie sie schulde ich den Damen und Herren Professoren dafür Dankbarkeit. Aber hier und da drängt sich mir die Frage auf, wie sich der Autor des „Klingsor“ in der nebenan aufragenden „Casa Camuzzi“ oder der Alte in der „Casa Rossa“ zu den gelehrten Vorträgen über ihn gestellt hätte, würde er noch leben. War er nicht immer auf der Flucht vor öffentlichen Auftritten gewesen, so dass ihm selbst der

Nobelpreis und alle sonstigen Ehrungen wie beispielsweise an Geburtstagen beinah zuwider und lästig vorkamen? War es ihm nicht fast immer gleich, was man über ihn schrieb, solange er nur selbst nicht im Schreiben behindert wurde? Nein, es schmälert natürlich die wissenschaftliche Leistung der Referenten nicht, die sich ihre halbstündigen Vorträge mit je einem Blatt Quellenangaben schmücken können – und müssen. Sie schreiben für die Hesse-Forschung und für die Ewigkeit. Auch das Publikum einer solchen Veranstaltung ist mit seiner enormen Dichte an Titel- und Lehrstuhlinhabern zwangsläufig die „illustre Gesellschaft“, als die es von einem der Referenten begrüßt wird: Eine solche ist die „Hesse-Gesellschaft“, der auch ich angehöre, durchaus. Aber gehöre ich auch wirklich dazu? Für mich – und ich bin der Einzige, für den ich sprechen kann – wird es auch die einzige derartige Vereinigung bleiben. Denn ist es nicht im Grunde schon ein Paradoxon, Hesse überhaupt mit Dingen wie Vereinen, Verbänden, Organisationen in Verbindung zu bringen? Die Hesse-Forschung mit ihren Institutionen ist das Eine, Wichtige, Unvermeidliche, Notwendige. Hesse-Zweig, Zweig-Hesse: Dass ich als Individualist, Schriftsteller, Künstler von ihr profitiere, ist das Andere. Damit sehe ich meine Mitgliedschaft wie die Anwesenheit bei dieser Tagung gerechtfertigt. Der Tatsache, dabei immer in meiner eigenen Minderheit gefangen zu bleiben, enthebt sie mich nicht. Aber gerade darin fühle ich mich wieder

dem Forschungsobjekt Hermann Hesse sehr nahe… Das Buch, das ich zu Hause gelassen habe, heißt „Auf den Spuren von Hermann Hesse“. Es sucht sie in Calw, Maulbronn, Tübingen, Basel, Gaienhofen, Bern und natürlich in Montagnola. Es geht ihnen anhand von Texten und Fotos in einer Art nach, wie es Pilger im „Heiligen Land“ anhand von Bibelstellen den Fußabdrücken von Jesus, Abraham oder Moses folgen lässt. Aber was ist eine von Hesses Schreibmaschinen im Museum? Eine Ansammlung seiner Brillen? Eine weiße Jacke, die er bei der Überfahrt nach Indien auf dem Schiff trug? Diese Gegenstände riechen nicht nach zerriebenen Feigenblättern, sondern eher nach Reliquien. Anders nähert man sich ihm schon in seinen Aquarellen. Sie sprechen für sich, zeigen – anders als die Brille - was er durch ihre Gläser hindurch sah, als er mit dem Pinsel in der Hand auf dem Malstühlchen saß. In Form der Bilder kehren seine zu Form und Farbe gewordenen Gefühle zum Betrachter zurück, erwecken neue Emotionen, nicht anders als es seine Ge-dichte, Erzählungen, Romane getan haben und noch tun. Nein, Hesse taugt nicht für Goldschnittausgaben, so wie man es im 19. Jahrhundert in gutbürgerlichen Haushalten mit dem Dichterfürsten Goethe hielt. Hesse war und ist immer gut für das Leben, für die Praxis und nicht für die Theorie. Er steht für den Duft zerriebener Feigenblätter und nicht für Bankette zu seinen Ehren. Seine Bücher aber bergen nach wie vor den Zündstoff, der zum Aufbruch zwingt, zur Wandlung, wenn die Zeit reif dafür ist. Doch es kann keine Wandlung sein, die sich auf ihn bezieht, auf seine Person, sein sehr spezielles Leben, die zurückgelassenen Gegenstände in den Museen. Bei ihm weist alles immer in die Gegenrichtung, in die des Lesers: Hesse am besten verstanden zu haben, ist vielleicht, sich von ihm zu lösen, wenn man auf dem Weg zu sich selbst fündig geworden ist. Und: Ihn trotzdem oder gerade darum zu lieben. Die alte Dame auf dem Friedhof traf ich nicht wieder. Ein Hinweis, dass sich inzwischen jemand außer mir am Grab eingefunden hatte, fand sich auch am letzten Abend nicht. Statt den Kieseln einen weiteren hinzuzufügen, suchte ich ein unscheinbares Steinchen, steckte es ein und nahm es mit. Es wäre zu pathetisch, wenn ich sagen würde, ich habe an diesem Ort der Wandlung mit Hesse Zwiesprache gehalten. Ich habe an seinem Grab nur etwas intensiver als sonst darüber nachgedacht, wie er mein Leben beeinflusst hat. Als ich in der Jugend begeistert „Narziss und Goldmund“ las, stellte ein kluger Freund die Frage, was wohl am Ende aus jemandem werden würde, der so früh und so intensiv mit Hesse in Berührung kam wie ich. Heute weiß ich es. Die Suche nach mir selbst ging aus einer Phase der Umwege in eine der „Stufen“ über. Am Ende floss alles zusammen, vereinigte sich zu dem, womit ich mich insgesamt in Einklang befinden darf. Ich hatte inzwischen genug Zeit, ganze Literaturbereiche zu entdecken, andere, auch weit modernere Dichter und Schriftsteller kennen- und lieben zu lernen. Aber auch wenn es noch so viele und teils mächtigere Nebenflüsse gab, so gab es doch nur eine Quelle, einen Ursprung. Zeitlich lag er in meinem Fall noch in den Jahren, als Hermann Hesse in den westlichen Jugendbewegungen als Drogenguru galt und seine Bücher – vor allem der „Steppenwolf“ und „Siddhartha“ – zu Kultbüchern wurden. Dass Vieles davon auf Miss-verständnissen und Verkürzungen beruhte, musste ich im Gegensatz zu Anderen nicht erst später begreifen. Denn ich war Ostdeutscher. Das ist es wohl auch vorwiegend, was mich einen gewissen Abstand spüren lässt, wenn die „Gesellschaft“ aufeinandertrifft, der ich angehöre. Zwar erlebte ich meine Jugend jenseits des Eisernen Vorhangs durchaus mit derselben Faszination des Aufbruchs wie die Hippies in Amerika, aber weitgehend ohne Drogen und vielleicht mit einer Spur mehr Offenheit für das, was der zu dieser Zeit schon einige Jahre auf dem Friedhof von Montagnola ruhende Hesse darüber hinaus zu sagen hatte: Ablehnung von Autoritäten und Konventionen war für ihn immer und unbedingt verbunden mit der Entwicklung der individuellen Persönlichkeit. Und er war sich immer bewusst gewesen, dass er im Grunde nur für jene Minderheit schrieb, die bereit und fähig war, sich darauf einzulassen Vielleicht wird sich ja die Hesse-Forschung auch einmal auf einem Kolloquium vergleichend des ganz praktischen Themas annehmen, wo die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede in der Wirkung Hesses im damals „freien“ Westen und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks liegen, oder noch besser: Über die Möglichkeiten eines durch Hesse geprägten Lebens überhaupt – vieler Leben, jedes Einzelne eine Welt für sich! Vielleicht wird auch längst an einer Fakultät daran gearbeitet, in Düsseldorf, Tübingen, Basel oder Bern? Es wäre auf jeden Fall die Untersuchung wert und nur zu gern würde ich für das Ergebnis ein weiteres Mal die lange Reise bis ins „Cafe´ Boccadoro“ in Montagnola antreten, durch dessen Namen ich immerhin gelernt habe, dass es die italienische Variante von „Goldmund“ ist.


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